Schon immer stand die Westliche Tatra im Schatten des benachbarten „kleinsten Hochgebirges der Welt“, der Hohen Tatra. Völlig zu Unrecht. Denn in dem auf der Staatsgrenze zwischen Polen und der Slowakei gelegenen Gebirge findet man äußerst abwechslungsreiche Landschaften. Wer sich dorthin aufmacht, erlebt überraschende Bergabenteuer in Hülle und Fülle. Die Westliche Tatra bietet zudem die seltene Gelegenheit, einen kompletten Hauptkamm zu begehen, ohne Kletterausrüstung zu benötigen – eine Gratwanderung par excellence! Auf dem durchgehend markierten Rücken genießt man stundenlang unverstellte Ausblicke.
Eine Hütte mit Herz
Also: Auf geht’s zu einer spannenden Bergwoche, die nach einer nächtlichen Zugfahrt von Prag im kleinen slowakischen Weiler Jalovec beginnt. Schon nach drei Stunden Steigarbeit ist mit dem grasigen Hügel Babky (1566 m) das erste von rund zwei Dutzend Gipfelzielen erreicht. Die an dessen Ostflanke gelegene Hütte Pod Náružím ist unter allen Tatra-Hütten zweifellos die unbekannteste und läuft ein wenig unter dem Radar. Dabei ist sie eine echte Herzensangelegenheit, denn sie wird von den Bewohner*innen des Dorfes Bobrovec betrieben, die so für eine einzigartige Atmosphäre sorgen. Schon am ersten Abend lernt man dort in geselliger Runde, dass die Berghütten auf der slowakischen Seite „chata“ und die auf der polnischen „schronisko“ genannt werden.
Hier zeigt sich die Westliche Tatra von ihrer ernsten Seite, der Pfad ist gespickt mit kniffligen Felsstufen und ruppigen Kraxelpassagen.
An den nächsten beiden Tagen geht es über den allmählich ansteigenden grasigen Höhenrücken über etliche Kuppen hinweg zum höchsten Punkt des langgezogenen Salatín (2047 m), dem westlichsten Zweitausender des Gebirgszuges. Hier zeigt sich die Westliche Tatra erstmals von ihrer ernsten Seite, denn der Pfad ist gespickt mit durchaus kniffligen Felsstufen und ruppigen Kraxelpassagen. Auch in den folgenden Tagen werden sich schroffe Felsgrate samt schwindeliger Tiefblicke beständig mit gutmütigen Bergrücken und sanften Wiesen abwechseln.
Nach einigem Auf und Ab steht man nacheinander auf den Gipfeln Spálená (2083 m) und Pachol‘a (2167 m), wo eine Kette bei der Überwindung einer Rinne hinunter in einen Abbruch hilft. Die Besteigung des Baníkov (2178 m) erfordert ebenfalls ein konzentriertes Treten im schrofigen Gelände eines zerrissenen Grates und auch die Überschreitung der folgenden Tri kopy (2136 m) macht noch so manche Klettereinlage nötig. Dabei hat man es mit einer verwickelten Abfolge aus Stufen, Rinnen, Absätzen und Scharten zu tun - ungemein spannend zu begehen. Der Abstieg zur slowakischen Žiarska-Hütte im gleichnamigen Tal ist danach nur noch eine Fleißarbeit. Dort unten donnerte im März 2009 die größte jemals in der Slowakei beobachtete Lawine hinab, die die Wände der Hütte eindrückte. Die Reste der Lawine waren erst im übernächsten Sommer weggetaut.
Kraxeln in wilder Felsszenerie
Nach dem Wiederaufstieg zum Hauptkamm zieht am steinigen Gipfel Plačlivé (2125 m) die wilde Felsszenerie um das imposante Felshorn Ostrý Roháč (2088 m) alle Blicke auf sich. Kommt man da wirklich ohne Kletterausrüstung hoch? Doch keine Angst, es ist möglich, den mit vielen Kraxelstellen gespickten Grat zu erklimmen. Der Aufstieg hält mit einer kettengesicherten Verschneidung sogar noch eine Art „Hillary Step“ kurz vor dem Gipfel bereit.
Über einen am Wołowiec (2063 m) beginnenden Nebenkamm steigt man zwecks Übernachtung zur Chochołowska-Hütte ab. Sie befindet sich am Rande eines Almgeländes, auf dem noch immer alte Heuschober und Hüttchen, die sogenannten Salasche, stehen. Die größte polnische Schutzhütte im Tatra-Gebirge bietet Platz für 121 Übernachtungsgäste. Hier muss man unbedingt das „Deser Chochołowski“ probieren: Hausgemachter Apfelkuchen mit Heidelbeeren und Sahne!
Gleich vier namhafte Berge werden überschritten und die Blicke in ein halbes Dutzend Täler begeistern.
Die fünfte Etappe vereint noch einmal alles, was die Westliche Tatra an Höhepunkten zu bieten hat und ist konditionell auch die Königsetappe. Gleich vier namhafte Berge werden überschritten und die Blicke in ein halbes Dutzend Täler begeistern. Links des Hauptkammes tun sich steile Felsabstürze auf, rechts des Pfades erfreut das Auge je nach Jahreszeit das satte sommerliche Grün oder das herbstliche Braun der Wiesen.
Tief unten steht in traumhafter Lage der verwinkelte Holzbau der Ornak-Hütte im Herzen des Kościeliska-Tales. Dieses gilt zu Recht als eines der schönsten von Polen. Zu den landschaftlichen Reizen kommt noch ein ungewöhnlicher Reichtum an Höhlen hinzu, von denen etliche frei zugänglich sind – Taschenlampe nicht vergessen! Die Hauptattraktion ist die Mylna-Höhle mit ihren 1600 Meter langen Gängen, von denen ein Teil sogar als eine Art unterirdischer Wanderweg markiert ist. Tief im Inneren des Berges kann man sich unter Tage führerlos von einer Bergseite zur anderen vorarbeiten, aber auch abseits der Hauptroute durch das verzweigte Höhlenlabyrinth stromern - doch die Gänge sind eng und für große Trekking-Rucksäcke ganz und gar ungeeignet. Manche Durchgänge sind kaum einen halben Meter hoch und hin und wieder kommt man nur auf allen Vieren und durch Pfützen kriechend voran.
Mit neuen Kräften geht es schließlich von der Ornak-Hütte zügig zum Ciemniak (2090 m) hinauf und am oberen Rand geradezu „dolomitisch“ gebänderter Wände über weitere Kuppen hinweg. Eine veränderte Vegetation, die vor allem im Frühsommer eine überwältigende Blütenpracht hervorbringt, verdeutlicht, dass man sich nun in einem verkarsteten Kalksteingebiet befindet - nach Tagen im Granit ein wahrer Balsam fürs Auge!
Beliebtes Gipfelziel
Rasch rückt der Giewont (1895 m) mit seinem über 17 Meter hohen Gipfelkreuz als nächstes Ziel ins Blickfeld. Dieser Berg stellt in Polen eine Art „bergsteigerisches Heiligtum“ dar, den jede*r Einwohner*in einmal bestiegen haben muss. Schon von weitem ist die Aufstiegsroute auf den populären Gipfel an der nicht enden wollenden Menschenkette gut zu erkennen. Viele nutzen den Giewont für eine Tagestour und bilden an den schwierigeren Kraxelstellen regelmäßig einen monumentalen Stau. Dies kann bei Schlechtwettereinbruch schnell zur Falle werden. Ein tragischer Unfall ereignete sich im August 2019, als während eines unerwartet aufziehenden Sturmes ein Blitz im Gipfelkreuz einschlug und sich über die eisernen Sicherungsketten auf alle Aufsteigenden entlud. Dieser Unfall forderte vier Menschenleben, über einhundert wurden zum Teil schwer verletzt.
Die Kondratowa-Hütte unterhalb des berühmten Gipfels ist die kleinste der polnischen Tatra-Hütten, gemütlich und scheinbar der Welt entrückt. Die letzte Renovierung ist schon mehrere Jahrzehnte her und war nur nötig geworden, weil ein rund 30 Tonnen schwerer Felsbrocken vom Giewont herunterrollte, die Gebäudeecke links der Terrasse zertrümmerte und im Speisesaal steckenblieb. Der Klotz liegt noch heute nah bei der Einschlagstelle.
Die Hohe Tatra wartet
Der letzte Tag beginnt mit dem Anstieg auf den Kasprowy Wierch (1987 m) hoch über Zakopane, dem „Zermatt von Polen“. Ein breiter Weg führt hinüber zum „Liliensattel“ Liliowe (1952 m), wo ganz offiziell die Westliche Tatra zu Ende ist und die Hohe Tatra beginnt. Vor einem baut sich die Felsmasse der Świnica, ihres Zeichens die zweithöchste polnische Bergspitze, auf. Hinter dieser verbirgt sich der zweifellos schwierigste Bergpfad der gesamten Tatra, der großartige klettersteigartig ausgebaute „Adlerpfad“ Orla Perć. Es ist eine fantastische, mindestens sechsstündige und nur stellenweise gesicherte Gratkletterei über ganze acht größere Berge und gefühlt zwei Dutzend Scharten und Sättel - eine einmalige Traumtour, die in der Tatra nirgends und in anderen Hochgebirgen nicht leicht zu finden ist. Doch dieses Bergerlebnis wie auch den außergewöhnlichen Seenreichtum der Nachbartäler hebt man sich am besten für den nächsten Besuch in der Tatra auf - denn der kommt bestimmt!