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Die „Spinne“ ist gegangen

19.01.2021, 14:02 Uhr

Am 19. Januar starb Cesare Maestri, einer der besten Kletterer der 1950er Jahre – und mit ihm eines der umstrittensten Geheimnisse der Alpingeschichte.

Als „Spinne der Dolomiten“ war er bekannt, der Kunstgeschichtler und Bergführer, am 2.10.1929 in Trento geboren. So soll ihn der Brenta-Hausmeister Bruno Detassis wegen seines Kletterstils bezeichnet haben. Er machte schwierigste Erstbegehungen und erste Winterbegehungen. Am liebsten aber stieg Cesare Maestri solo durch unbekannte Routen des damals höchsten sechsten Schwierigkeitsgrades; ein Drittel seiner 3500 Routen machte er im Alleingang, darunter die Solleder an der Civetta und die Soldà an der Marmolada. Die berühmteste Episode spielte am Crozzon di Brenta: Nach der Solobegehung der „Via delle Guide“ (800 m, V+) stellte er fest, dass er nicht ausgelastet war, warf sein Seil die Wand hinunter und stieg über die Route ab.

 

Maestri und der Cerro Torre

Kein Wunder, dass er 1957/58 von Detassis eingeladen wurde, die Erstbesteigung des Cerro Torre in Patagonien zu versuchen. Der Berg veränderte sein Leben für immer. Bei der ersten Expedition befand Detassis den „Schrei aus Stein“ für zu gefährlich, um überhaupt einen Versuch zu wagen – ein Jahr später kehrte Maestri mit dem dem nach Argentinien ausgewanderten Trentiner Cesare Fava und dem Tiroler Toni Egger zurück. Fava blieb im Basislager, Egger und Maestri brachen auf – und einige Tage später fand Fava den halbtoten Maestri am Fuß der Wand. Seine Geschichte: Die Stürme hatten den Berg in eine Eisschicht gehüllt, an der sie zum Gipfel geklettert seien; beim Abstieg sei das Eis geschmolzen, eine Lawine habe Egger mitsamt der Kamera mit dem Gipfelfoto in den Tod gerissen, er selbst sei gerade noch heruntergekommen.

Im Allgemeinen gilt, dass man auf das Wort eines Bergsteigers vertraut. Doch in der Szene wurden Zweifel laut: Die supersteile Eiskletterei war weit jenseits des damaligen Standards, dem Felsexperten Maestri glaubte man ohne Fotobeleg nicht. Carlo Mauri schrieb nach einem erfolglosen Versuch 1970: „Wir kommen zurück vom unmöglichen Cerro Torre“. 

 

Maestri reagiert mit technologischer Berg-Bezwingung

Maestri reagierte auf eine besondere Art: Mit einigen Begleitern und einem benzinbetriebenen Kompressor installierte er fast 400 Bohrhaken über den Südostgrat, der 1968 von einem englisch-argentinischen Team schon ein gutes Stück weit begangen worden war. Dabei bohrte er auch neben Rissen und anderen Strukturen, die ohne technische Hilfe erklettert worden waren. Eine Seillänge unter dem Gipfel kehrte er um, weil der Gipfeleispilz „nur ein Klumpen Eis“ sei, der „eines Tages vom Wind weggeblasen“ werde. Diese technologische Berg-Bezwingung wurde allgemein als schlechter Stil getadelt, dennoch nutzten die meisten Besteiger des Cerro Torre diese Linie, die Jim Bridwell 1979 erstmals bis zum Gipfel beging (die erste belegte Besteigung des Torre gelang 1974 über die Ragniroute). 2012 schufen dann zwei Amerikaner neue Tatsachen und entfernten gut die Hälfte der Bohrhaken; wenige Tage darauf gelang David Lama die erste freie Begehung des Südostgrates.

 

Und was war 1959 mit Maestri und Egger gewesen?

Rolando Garibotti ist einer der besten Kenner Patagoniens. Er erforschte akribisch die Ostseite des Berges, über die Maestri aufgestiegen sein will, und verglich Berichte von Maestri, Fava und anderen Aktiven, die später dort aktiv waren. Altes Material, das vielleicht von Maestris Expedition stammte, wurde im unteren Drittel der Wand gefunden – aber oberhalb, bei verschiedenen Versuchen und auf der Linie „El Arca de los Vientos“ (VII+, A1, 60°), gab es keine Spuren mehr. Auch auf der „Directa de la Mentira“ (Lügendirekte) und bei anderen Versuchen fanden diverse Bergsteiger keine Zeichen von früher – obwohl Maestri am Gipfelaufbau 30 Bohrhaken platziert haben will. Ein Foto, mit dem Maestri seine Besteigung belegen wollte, ordnete Garibotti einer für die Besteigung irrelevanten Stelle an einem anderen Berg zu. Das wichtigste Argument gegen Maestris behaupteten Erfolg ist wohl, dass Eiskletterei in dieser Steilheit mit den damaligen Pickeln, Steigeisen und Sicherungsmitteln nicht vorstellbar ist; die ersten Besteigungen über die Ostwand gelangen erst nach 2000, wo sich das Eisklettern um Welten vom einstigen Standard wegbewegt hatte. Maestri dagegen beschrieb die Gipfelwand als maximal 60° steil und erzählte von großen Schwierigkeiten unterhalb des Torre-Egger-Cols, wo das Gelände in Wirklichkeit relativ einfach ist. Garibottis Fazit in einem bestens belegten Artikel: „Alle Faktoren zusammengenommen, sind Maestris und Favas Beschreibungen der Ereignisse von 1959 komplett unzuverlässig. Alles was man zugestehen kann, ist, dass Maestri und Gefährten 1959 versuchten, die Ostwand zu durchsteigen, und einen Punkt in 300 Meter Wandhöhe erreichten, nahe dem dreieckigen Schneefeld. Die Angaben zum weiteren Aufstieg sind so ungenau und widersprüchlich zu anderen Fakten, dass sie nicht anerkannt werden sollten.“

 

Und was, wenn Maestri doch oben war? Dann wäre seine Tragik die des zu Unrecht Beschuldigten, der ein Leben lang unter den Vorwürfen gelitten hat. Wahrscheinlicher ist eine andere, vielleicht noch größere Tragik: die eines Menschen, der eine einmal erfundene Lüge nicht mehr zurücknehmen konnte oder wollte – aus welchen Gründen auch immer – und jede Anschuldigung mit seinem eigenen Spiegelbild ausdiskutieren musste. Bis zu seinem Tod am 19. Januar 2021 hat er an seiner Version der Dinge festgehalten, die Wahrheit nimmt er mit ins Grab. In Erinnerung bleiben darf er als Präsident der Bergführer von Madonna di Campiglio, Ehrenmitglied des Club Alpino Italiano, Träger des Italienischen Verdienstordens – und als „Spinne der Dolomiten“, einer der beeindruckendsten Felskletterer der 1950er Jahre. 

 
15.02.2021, 21:15

TV-Tipp: Bergwelten – Mythos Cerro Torre: Reinhold Messner auf Spurensuche

Servus TV Deutschland

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Der schwierigste Berg der Welt: der Cerro Torre in Argentinien. Wann wurde dieser Gipfel zum ersten Mal bestiegen? Am 15. Februar geht Servus TV der Frage nach, ob Cesare Maestri den Gipfel 1959 wirklich erreicht hat und was mit seinem Kollegen Toni Egger geschah. Der Cerro Torre ist eine 3.128 Meter hohe Granitnadel mit 1.800 Meter hohen Wänden. Am 30. Januar 1959 soll es Cesare Maestri und dem Tiroler Toni Egger über die Nordwand gelungen sein, den Gipfel des Cerro Torre erstmals zu erreichen. Ob die beiden das wirklich geschafft haben, wird bis heute bezweifelt: Egger verunglückte beim Abstieg und Maestris Schilderungen wirken unglaubwürdig.    In seiner vierten Regiearbeit für Servus TV analysiert Reinhold Messner mit einem besonderen Augenmerk auf Authentizität, was damals wirklich geschah. Mit Hilfe von Experten und anderen Bergsteigern, die mittlerweile nachweislich diesen „schwierigsten Berg der Welt“ bezwungen haben, wird dem tödlichen Unfall der Bergsteigerlegende Toni Egger auf den Grund gegangen. Eingebettet ist die Story in großartige Luft- und Landschaftsaufnahmen.