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„Wir sind nicht auf dem Sportplatz“ – Pit Rohwedder im Gespräch

Pit Rohwedder ist Lebenscoach, Bergführer und 2. Vorsitzender der Sektion Füssen. Im Gespräch mit Axel Klemmer betont er die Wichtigkeit von Entschleunigung, hofft auf mündige Alpenvereinsmitglieder und erklärt, warum sich die Ökonomie des Bergsports nicht immer auf das Arbeitsleben übertragen lässt.


Axel Klemmer (AK): Am 26. Juni 2020, im ersten Corona-Sommer, schaffte Toni Palzer die Watzmann-Überschreitung samt Abstieg und Rückkehr zum Ausgangspunkt in zwei Stunden 47 Minuten und acht Sekunden. Sollte er sich nächstes Mal mehr Zeit lassen?

 

Pit Rohwedder (PR): (Lacht)Toni Palzer ist ein Musterbeispiel für einen extremen Leistungssportler, und er soll machen, was er will und was er selbst für richtig hält. Das Problem ist nur, dass wir geneigt sind, von diesen und anderen extremen sportlichen Leistungen eine Vergleichbarkeit zur Wirtschaft und zum Arbeitsleben herzustellen. Wir verstehen jedoch überhaupt nicht, dass diese extremen Leistungen für den normalen Menschen völlig außer Reichweite sind. Wir hofieren diese Spitzenleistungen so, als ob sie das erstrebenswerte Maß der Dinge sind. Das ist ein totaler Unsinn. Der Spitzensport soll in der Nische bleiben, in die er hingehört, und er ist nur bedingt übertragbar in die Wirtschaft. Da wird gerade auch von Motivationstrainern viel Missbrauch betrieben, einfach weil die keine Ahnung haben, wie es in Betrieben und Unternehmen wirklich zugeht.

 

"Der Spitzensport soll in der Nische bleiben, in die er hingehört und er ist nur bedingt übertragbar in die Wirtschaft"

 

AK: Herr Rohwedder, Sie sind Bergführer, Mitglied im Bundeslehrteam des DAV, aktiv bei der Bergwacht und seit Oktober 2020, zum Beginn der zweiten Corona-Welle, auch noch Zweiter Vorsitzender der DAV-Sektion Füssen. Nebenbei haben Sie auch einen Hauptberuf: Als selbständiger Unternehmensberater und Coach empfehlen Sie Entschleunigung. Echt jetzt?

 

PR: Auf jeden Fall! Doch Entschleunigung wird häufig missverstanden: Entschleunigung zum reinen Selbstzweck führt letztlich zur Langeweile und zur Unproduktivität. Entschleunigung integrativ betrachtet fördert den gesunden Rhythmus von Anspannung und Entspannung, von Aktion und Reflektion, von Dynamik und Stabilität. So entsteht optimale Leistung. Nur die optimale Leistung sichert uns im Arbeitsleben langfristig unsere Leistungsfähigkeit, Leistungsmotivation und Kreativität.

 

Die Spitzenleistung, also das Maximum, laugt uns aber bereits schon mittelfristig aus. Man sieht das ja bei den Spitzensportlern, wie früh die im Leben verbraucht sind. Insofern taugen Analogien aus dem Spitzensport nur bedingt für langfristige und vor allem nachhaltige Ziele. Weil aber immer mehr Top-Manager nur auf kurzfristige Ziele schauen und ein großer Teil des Börsensystems so funktioniert, hofieren wir den Spitzensport und küren ihn zum Maß der Dinge. Das ist völlig verzerrt und beutet die Menschen aus. Intelligente Entschleunigung gehört zur langfristigen und nachhaltigen Erfolgsausrichtung. So arbeiten Menschen lange mit optimaler Ressourcennutzung und bleiben gesund.

 

AK: Reden wir über die Ökonomie des Bergsports. Die vorläufige Bilanz von Corona sind viele unbestiegene Berge, nicht gemachte Hüttentouren, abgesagte Westalpenfahrten, gestrichene Trekkingreisen. Das Tourenkonto ist ins Soll gerutscht. Was tun? Abschreiben oder Dampf machen, um alles nachzuholen?

 

PR: Weder noch. Wir mussten in den Lockdowns durch die vielen Einschränkungen Verzicht üben. Der Verzicht bot aber auch die Chance, ein anderes Verhältnis zu den Bergen oder zur Natur insgesamt zu bekommen – und auch zu sich selbst. Man konnte nicht, wie vielleicht sonst, eine Menge an Touren konsumieren, sondern nur das tun, was eben möglich war - das aber mit anderem Blick. Dieser neue Blick bietet die Chance, nach dem Verzicht mit einem neuen oder anderen Verständnis in die Berge zu gehen.

 

AK: Wie war das zum Beispiel bei Ihnen?

 

PR: Im Winter mache ich sehr viele Skitouren. Ich lebe grenznah zum Lechtal, durfte aber nicht einreisen. Ich habe dafür die heimischen Allgäuer Berge wiederentdeckt, mit wesentlich kürzeren Anreisen, oft sogar mit dem Fahrrad. Ich habe das unglaublich geschätzt und Ecken entdeckt, in denen ich noch nie vorher mit Ski unterwegs war. Das wäre mir alles verborgen geblieben, wenn ich nach gewohntem Muster ins Lechtal gefahren wäre. Diese neuen Erfahrungen haben für mich jetzt etwas Bleibendes.

Für die bergfernen Mitglieder ist es natürlich schwieriger, weil sie ja immer von weither anreisen müssen. Doch auch wenn die Berge nicht in praktischer Reichweite liegen, kann auch der Blick auf die naheliegende heimische Naturlandschaft gerichtet werden. Auch sie kann eine Quelle von Erholung, Sport und Inspiration sein. Ich glaube, es ist notwendig, unter diesen Zwangsbedingungen eine andere Vorstellung von den Chancen zu entwickeln, die sich bieten.

 

"Es geht nicht um langsam oder schnell, sondern darum, einen optimalen Weg in der Dynamik zu finden"

 

AK: Corona als Gelegenheit zu einer Entschleunigung, die andererseits niemand wirklich haben wollte: Alle schienen nur darauf zu warten, endlich wieder Gas zu geben…

 

PR: Es kommt eben auf das Mindset an, also auf die Denkweise oder Grundeinstellung: Wie begegne ich dieser Zwangsentschleunigung, dieser Reduzierung von Freiheit? Versuche ich darin auch Chancen zu sehen? Versuche ich, auch Dinge in mir selbst und in meinem Verhalten zu hinterfragen? Oder bleibe ich in meiner Erwartungshaltung, scharre mit den Hufen und schnelle dann wie der Pfeil vom Bogen, wenn die Öffnung wieder da ist? Das sind Fragen der grundsätzlichen Haltung. Und da hat der Alpenverein eine große Chance, seine Mitglieder zu animieren, über das eigene Berg-Konsumverhalten und die eigene Naturbeziehung nachzudenken.

 

 

AK: In Zeiten des Klimawandels könnte ja auch noch Torschlusspanik dazukommen: Ich muss jetzt noch auf diesen Gletscherberg, bevor ich meine Steigeisen endgültig aufs Altmetall schmeiße.

 

PR: Das mag bei Einzelnen der Fall sein. Aber da sind wir wieder bei der grundsätzlichen Einstellung. Am Ende suchen wir in den Bergen ja nicht nur schöne Erlebnisse, sondern auch Zufriedenheit, und die Frage ist: kann ich dieses Glücksempfinden, diese Zufriedenheit auch mit anderen Tourenzielen erreichen, oder muss es zwangsläufig dieser oder jener Gletscherberg sein?

 

 

AK: Entschleunigung ist nach aktueller ökonomischer Lesart ein Aufruf zu Dysfunktionalität. Wirtschaft und Politik drücken aufs Tempo, bei der Digitalisierung, bei der Energie- und Verkehrswende, bei Forschung und Bildung. Kann es ein langsames Leben im Schnellen geben?

 

PR: Es geht nicht um langsam oder schnell, sondern darum, einen optimalen Weg in der Dynamik zu finden. Wer beispielsweise Innovation fördern will, schafft das nicht durch maximale Anstrengung. Für kreative Entwicklungsprozesse, die ja Leistungen unseres Gehirns sind, benötigt das Gehirn Pausen, so paradox das auch klingen mag. In Pausen arbeitet das Gehirn jedoch weiter, es kommt in einen assoziativen Modus, verarbeitet und verknüpft Eindrücke. Ernst Pöppel hat mal gesagt: „Wenn ganz Deutschland jeden Tag für eine Stunde nicht kommunizieren, sondern in Stille verharren und nachdenken würde, hätten wir wahrscheinlich den größten Innovations- und Kreativitätsschub, den man sich vorstellen kann.“

 

Es geht also darum, einen klugen Rhythmus zu finden, in dem Phasen der Entschleunigung einen Beitrag dazu leisten, Kräfte zu sparen, innovativ zu sein und letztlich in einen Flow-Zustand kommen, statt permanent erschöpft zu sein. Burnout ist inzwischen ein ganz großes Thema, was immer noch auf die Individuen abgewälzt wird. Dabei müssen vor allem die Unternehmen die Verantwortung annehmen, Rahmenbedingungen für optimale Leistung und Flow zu schaffen. Hier sind vor allem die Führungskräfte und UnternehmerInnen gefragt.

 

"Aber für etwas brennen bedeutet, sich für etwas mit Freude und Talent voll einzusetzen, nicht jedoch, daran zu auszubrennen oder zu verbrennen"

 

AK: Von Neil Young stammt die Textzeile „It's better to burn out than to fade away“. Auch Bergsteiger, vor allem extreme, geben so was gern von sich. Was halten Sie denn von dieser Anleitung zum intensiven Leben?

 

PR: Ich kenn den Song und mag ihn sehr. Aber für etwas brennen bedeutet, sich für etwas mit Freude und Talent voll einzusetzen, nicht jedoch, daran zu auszubrennen oder zu verbrennen. Leidenschaft impliziert immer auch Leidensbereitschaft. Die Kunst ist, dabei das rechte Maß zu finden und sich nicht permanent zu überfordern und dabei krank zu werden.

 

AK: Kaum hatte man im Mobilfunk den 4G-Standard, musste man schon 5G haben – um zu wissen, dass viele neue Technologien eh nur mit 6G funktionieren. Schnelle Infrastrukturen schaffen mehr Verkehr. Kommen wir jemals aus der Mühle raus?

 

PR: Mit dieser überzogenen und egoistischen Gier nach Wachstum kommen wir da nicht raus. Wir ruinieren den Menschen, die Umwelt und den ganzen Planeten. Ohne einen Paradigmenwechsel, ein neues Mindset, laufen wir auf einen Abgrund zu. Das ist nun nichts Neues und wird seit langem gefordert, aber es muss eben auch in der breiten Masse ankommen. Dieses Thema kann man nicht den Politikern überlassen, denn sie zeigen seit Jahrzehnten nur Halbherzigkeit und mangelnde Integrität. Sie sind einfach zu sehr mit der Wirtschaft verstrickt. Wir als Verbraucher haben viel mehr Einfluss und Macht, wie wir selber meinen. Wir brauchen hier eine neue Bewusstseinsgesellschaft, die aktiv an der Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft verantwortungsvoll mitwirkt.

 

AK: Im Leistungssport wird kräftig gedopt, der Amateursport hat längst nachgezogen. Es gibt da diese einschlägigen Sprüche: „Wer bremst, verliert“ oder „Wer nicht kotzt, läuft nicht am Limit“…

 

PR: Der Mensch hat immer schon Grenzen verschoben, egal ob auf Landkarten, in körperlicher Hinsicht, bei Technologien, oder in anderen Bereichen. Die Frage ist nur, welche Werte verkörpern wir damit, welchen Preis zahlen wir dafür und ist das nachhaltig und sinnvoll.

Doping im Sport ist ein Missbrauch an den Grundwerten, die den Sport ausmachen. Wenn man sich überlegt, welchen pädagogischen Wert der Sport in der Gesellschaft haben kann und welchen enormen Beitrag alle Sportvereine dafür leisten, ist Doping eine einzige Schande. Wer dopt, ist in der Regel in einem System gefangen, das ihn oder sie dazu zwingt. Ich kenne Sportler, die die Kraft und Integrität besessen haben, daraus auszusteigen. Bravo! Das sind glaubwürdige Vorbilder!

 

"Will man das für den Rest seines Lebens oder orientiert man sich um?"

 

AK: Fitnessbänder, -uhren und -Apps wie Strava belohnen Tempo und Leistung. Bräuchten wir Entschleunigungs-Apps?

 

PR: Gute Frage. Ich bin nicht so technikaffin, dass ich so was für mich für nötig hielte. Wenn man auf sein Gefühl achtet und auf seinen Körper hört, denke ich, dann findet man schon das richtige Maß für sich heraus. Aber für viele Menschen, die diesen Zugang zu sich selbst nicht mehr haben, könnten Apps in dieser Art hilfreich sein. Man kann aber auch einfach mein Buch über Entschleunigung von Lebens- und Arbeitswelten lesen, denn das sind viele praktische Tipps für den Einzelnen, für Führungskräfte und für ganze Organisationen.

 

 

AK: Sie propagieren die richtige „Work-Life-Balance“. Ist dieser Begriff ebenso wie „Quality Time“ nicht auch nur ein weiterer Euphemismus für die durchdringende Ökonomisierung des Lebens?

 

PR: Im Grunde genommen geht es um eine Lebensbalance. Es geht nicht darum zu sagen, hier ist die Arbeit und da ist das Leben – so als seien das zwei Bereiche, die miteinander konkurrierten. Es geht um Integration und Erfüllung. Ich kenne Menschen, die arbeiten 10-12 Stunden am Tag und sind voller Energie, weil sie am richtigen Platz sind, ihre Ressourcen gut einteilen können, Freude an ihrer Arbeit haben und erfüllt sind. Und es gibt Leute, die sind schon nach sechs Stunden völlig fertig. Die Verantwortung, eine gute Lebensbalance hinzubekommen, liegt zunächst bei jedem selbst, aber die Verantwortung nur beim Individuum zu belassen wird der betrieblichen Realität nicht gerecht. Hier haben die Führungskräfte ganz klar eine Fürsorgeverantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern. Im Handelsgesetzbuch §62 ist klar geregelt, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter vor Überanstrengung bewahren müssen und dass keine unangemessene Arbeitsleistung gefordert werden darf. Dieser Verantwortung kommen viele Führungskräfte und Unternehmen nicht sorgfältig genug nach.

 

 

AK: Nun kann in der Freizeit jeder selbst entscheiden, ob sie oder er langsam oder schnell unterwegs sein will. Im Job geht das meistens nicht. Welche Freiheiten oder Optionen haben Angestellte, die in einem „schnellen“ Unternehmen langsamer werden wollen? Nur die Kündigung?

 

PR: Nein. Jedoch geht es nicht darum langsamer zu werden, sondern das richtige Tempo zu finden. Dazu müssen Mitarbeiter Gespräche mit ihren Vorgesetzten führen, wie z.B. der Mengenzuwachs überhaupt gestemmt werden soll oder wie bei Umstrukturierungen Aufgaben optimal verteilt werden müssen, intelligente Prozesse definiert werden müssen usw. Führungskräfte müssen ins Top-Management eskalieren und die müssen sich wiederum mit den typischen Beschleunigungsfallen in der gesamten Organisation beschäftigen. Noch einmal: die Rahmenbedingungen für optimale Voraussetzungen der Mitarbeiter zu schaffen ist originäre Führungsaufgabe. Wenn es diese Unterstützung von oben aber nicht gibt, dann muss man sich irgendwann klar machen, dass man in einem krankmachenden System arbeitet. Will man das für den Rest seines Lebens oder orientiert man sich um? Wenn man nicht wechseln kann, was wäre dann eine gute Überlebensstrategie? Das sind häufig zentrale Fragen, die sich die Menschen stellen, mit denen ich beruflich als Coach zu tun habe.

 

"Angst ist ja zunächst eine sehr hilfreiche Eigenschaft, denn sie macht uns aufmerksam statt träge, sie macht uns vorsichtig und umsichtig"

 

AK: Wenn du langsamer wirst und zu lernen aufhörst, überholen dich die anderen, und dann verlierst du… Welche Rolle spielt die Angst, nicht genug zu leisten oder zu langsam zu sein?

 

PR: Das ist eine gute Frage, die jedoch viele Facetten hat. Angst ist ja zunächst eine sehr hilfreiche Eigenschaft, denn sie macht uns aufmerksam statt träge, sie macht uns vorsichtig und umsichtig. Angst, nicht genügend leisten zu können, kann mit tiefliegenden Themen in der Person selbst begründet sein oder mit dem Kontext zu tun haben, in dem sie sich bewegt. Gerade bei Veränderungsprojekten haben viele Mitarbeiter Angst, was da auf sie zukommt, ob sie dem noch gerecht werden können oder ob ihr Arbeitsplatz noch sicher ist. Sie brauchen dann eine Perspektive, das alles bewältigen zu können. Hier sind wieder Führungskräfte gefragt, ihren Mitarbeitern zu helfen. Leider tun das die wenigsten, weil sie meist selbst überfordert sind.

 

 

AK: Andererseits muss man sich Entschleunigung leisten können – so wie wir beiden Freiberufler, die sich an einem Wochentag am Ufer des Starnberger Sees zu diesem Gespräch treffen. Leiharbeiter, Alleinerziehende, prekär oder im Niedriglohnsektor Beschäftigte leben und arbeiten oft im Hochgeschwindigkeitsmodus und kommen nicht runter. Eine Empfehlung zur Entschleunigung dürften manche als zynisch empfinden.

 

PR: Bei diesen Gruppen haben Sie völlig recht. Das ist schwierig. Hier steht der Staat, der Gesetzgeber ganz klar in der Verantwortung, die Arbeitgeber an ihre Fürsorgepflicht zu erinnern, ihre Leute nicht auszubeuten. Tatsächlich erlebe ich in der Politik aber zu wenig Unterstützung dafür. Die meisten Entscheidungsträger in den Regierungen aber auch in großen Konzernen haben keine Ahnung, wie es an der Basis wirklich zugeht. Das ist häufig völlig entkoppelt und ein Drama!

 

 

AK: Erklären Sie bitte den Unterschied zwischen einem effektiven und einem effizienten Arbeitsleben.

 

PR: Effektiv meint in erster Linie produktiv: Ich mache die richtigen Dinge. Effizient heißt, ich mache die richtigen Dinge in der richtigen Reihenfolge, damit schlank und kostengünstig.

 

 

AK: Und der Unterschied zwischen effektivem und effizientem Freizeitverhalten?

 

PR: Beim Klettern spielt effizientes Seil- und Standplatzmanagement vor allem in langen Touren sicher eine große Rolle, weil so etwas letztlich gutes Zeitmanagement bedeutet. Gutes Zeitmanagement ist wiederum ein Beitrag für gutes Risikomanagement. Wenn ich aber einfach nur genießen möchte und die alpinen Gefahren eine untergeordnete Rolle spielen, plädiere ich für loslassen und verspielt sein. Reinhard Karl hat das so schön ausgedrückt: Erlebnis Berg-Zeit zum Atmen, Zeit zum Staunen.

 

 

AK: Steigt die Produktivität durch immer weitere Automatisierung und Mechanisierung, haben wir alle mehr Zeit für sinnerfüllte Betätigung: So hatte Karl Marx sich das mal vorgestellt. Aber statt die freigewordene Zeit für uns zu nutzen – zum Beispiel auch, um nichts zu machen –, nutzen wir sie tatsächlich, um die Produktion und den Konsum immer weiter zu steigern. Ist das quasi eine Naturgesetzlichkeit?

 

PR: Nein. Es ist ein menschengemachtes Konstrukt. Das bilden wir uns ein, weil wir in einer Welt des Konsumismus leben. So lange wir diese Konsumentenrolle spielen wie bisher, so lange glauben wir tatsächlich, wir müssten so viel arbeiten, damit wir uns wieder „was leisten können“.  Geld und materielle Güter machen jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt glücklich: nämlich sorgenfrei leben zu können. Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich zusätzliches Geld nicht auf die Lebenszufriedenheit oder auf das Glück auswirkt, denn der durch mehr Geld entstehende Mehrkonsum wird schnell zur Routine und stumpft sich ab.

Spielen wir also weiter nach diesen Spielregeln, laufen wir Gefahr, Menschen, Natur und den Planeten weiter auszubeuten. Es braucht insgesamt ein anderes Verständnis von der Wirtschaft, in dem vor allem auch wir als Konsumenten mehr nachhaltige Verantwortung übernehmen sollten. Weniger ist mehr.

 

 

"Es wurden einmal 38 Nobelpreisträger gefragt, wie sie eigentlich zu ihren genialen Ideen gekommen sind. 36 antworteten: beim Nichtstun"

 

AK: Hohes Tempo im Alltag und dann mit Vollgas in die Berge, um dort quasi auf Knopfdruck zu entschleunigen. Klappt das?

 

PR: Das klappt sogar sehr gut, muss aber geübt werden. Die Patienten in der Kurklinik Schwangau, mit denen ich als Coach arbeite, sind in ihrem Alltag häufig sehr getrieben, und sie erleben dieses Getriebensein dann fast schon zwanghaft. Sie müssen in der Kur erst wieder lernen, in einen entschleunigten Modus zu kommen und dadurch den gesunden Rhythmus von Anspannung und Entspannung wiederzufinden Aber das geht.

 

 

AK: Welche Methoden nutzen Sie?

 

PR: Erst mal: Langsam gehen, denn bei uns in der Klinik wird auch viel gewandert. Zwischenräume zur Regeneration nutzen und jeden Tag für 30 Minuten mal nichts tun: kein Smartphone, keine Nachrichten, keine Musik, keine Zeitung. Einfach nur den Gedanken freien Lauf lassen. Tagträumen. Das alles ist nicht nur wohltuend für das vegetative Nervensystem, sondern auch für das Gehirn, denn in diesem Modus wird gewissermaßen der Müll rausgetragen. Der assoziative Modus wird angeregt. Menschen kommen dabei zu viel kreativeren Lösungen, als wenn sie ganz fokussiert und angestrengt sind. Es wurden einmal 38 Nobelpreisträger gefragt, wie sie eigentlich zu ihren genialen Ideen gekommen sind. 36 antworteten: beim Nichtstun. Entschleunigung hilft also nicht nur dem „Runterkommen“, sondern unterstützt auch Kreativität und Innovation.

 

 

AK: In ihrem Buch empfehlen Sie, nach dem Essen „in einem Park oder naturnaher Landschaft“ spazieren zu gehen. Nun liegt ihr Büro direkt am Alpenrand, auf der einen Seite der Forggensee, auf der anderen Schloss Neuschwanstein… Sie haben gut reden!

 

PR: Ja, aber ich habe auch fünf Jahre in einem Automobilkonzern in einer größeren Stadt gearbeitet, ohne diese naturnahe Umgebung, und ich habe es trotzdem und mit guter Wirkung genutzt. Man kann nämlich auch auf dem Betriebsgelände oder außerhalb des Betriebsgeländes spazieren gehen, um sich durch Bewegung etwas zu regenerieren. In naturnaher Landschaft ist es natürlich schöner, aber man hat festgestellt, dass Menschen, die sich egal wo bewegen, kreativer sind als Menschen, die nur rumsitzen. Bewegung fördert Ausgleich und Kreativität. Dazu kann man sehr gut die Mittagspause nutzen.

 

 

AK: Natur pur, Stille… keine Großparkplätze, keine breiten Forststraßen, keine Fichtenplantagen, keine Menschenkolonnen, keine E-Bike-Pelotons, die an einem vorbeisausen… Mit Verlaub, Sie zeichnen in Ihrem Buch schon ein sehr ideales, um nicht zu sagen eskapistisches Bild der heilen Bergwelt.

 

PR: Zunächst macht dieses Idealbild nur deutlich, welches Potenzial in der Natur drinsteckt. Wenn dieses Potenzial aber gleichzeitig von Massen genutzt wird, dann hat man wieder unerwünschte Nebeneffekte und keine Ruhe mehr. Und man fragt sich vielleicht: Soll ich da überhaupt noch hingehen, wo viele Menschen sind – oder eben zu der Zeit, in der viele Menschen da sind? Ich kann natürlich auch früher unterwegs sein oder erst am Abend, sofern das mit den wildbiologischen Regelungen vor Ort konform ist. Aber Sie haben schon recht, wenn am Ende die Massen die Alpen bevölkern, wird es immer schwerer, die Naturpotenziale wie Stille und Ruhe zu nutzen. Dennoch kann man sich aber auch an einem bevölkerten Gipfel abseits setzen und dort vor allem nicht rumtelefonieren oder mit dem Smartphone spielen. Offline sein ist der neue Lebensluxus. Es hilft erheblich zur Regeneration und wieder bei sich selbst anzukommen. Bei meinen geführten Touren und Ausbildungen ist eine der wichtigsten Spielregeln, dass die Handys offline sind.

 

"Gleichzeitig gibt es viele Mitglieder, die gar kein Interesse an entsprechenden Ausbildungsprogrammen haben. Die wollen nur die Vorteile der Mitgliedschaft und den Versicherungsschutz nutzen"

 

AK: Kommen wir zum Alpenverein. Kann der sich aus der allgemeinen Beschleunigung ausklinken, wenn seine Mitglieder Tempo machen wollen?

 

PR: Das ist ein Thema mit vielen Facetten. Zunächst gibt es ja ein Leitbild, das kein Papiertiger sein sollte, sondern kulturelle Wirklichkeit werden muss. Dann ist die Frage, welches Tempo wollen denn die Mitglieder?

 

 

AK: Das Mitgliederwachstum der letzten Jahre und Jahrzehnte war ja fast schwindelerregend. Und es gilt gemeinhin als Erfolgsindikator…

 

PR: …was nach meiner Meinung ein Trugschluss ist. Ich sehe das auch als Sektionsvorstand: Wir haben das Problem, dass wir diese vielen neuen Mitglieder gar nicht bei Themen wie der bergsteigerischen Basiskompetenz oder dem Naturschutzbewusstsein abholen können. Das klappt nicht, da sind gar nicht die Strukturen dafür da. Gleichzeitig gibt es viele Mitglieder, die gar kein Interesse an entsprechenden Ausbildungsprogrammen haben. Die wollen nur die Vorteile der Mitgliedschaft und den Versicherungsschutz nutzen. Ja, diese steigenden Mitgliederzahlen werden auf den Hauptversammlungen seit Jahren als Erfolgsindikator präsentiert. Aber dieser Erfolg ist nur ein quantitativer, kein qualitativer. Das heißt, der DAV als Naturschutzverein läuft immer mehr Gefahr zur Hülle oder zum Deckmantel zu werden, unter dem die Substanz wegbröckelt. Das ist ein Riesenproblem und gehört in die neue Strategie- und Leitbilddiskussion.

 

 

AK: Sport und Naturschutz: Geht die Schere eher weiter auseinander, oder schließt sie sich? Wie empfinden Sie das gerade?

 

PR: Die Schere ist bereits weit auseinander gegangen, weil das reine Sportdenken die Natur zum Sportgerät in hübscher Kulisse degradiert. Wir brauchen wieder mehr Diskussionen um Werte wie Demut und Ehrfurcht vor dem Leben, wie es Albert Schweitzer schon gefordert hat.

Ich arbeite als DAV Lehrteamsmitglied gerade in einer Projektgruppe für eine neue Trainer-Ausbildung, in der es um Gesundheits- und Präventionsthemen geht. Das ist ein guter und richtiger Ansatz, denn dadurch haben wir die Chance, einen anderen Zugang zu uns selbst und zur Natur wieder zu entdecken. Ich kenne noch die Diskussionen in den 1980er-Jahren, als es um die Frage ging: Ist Bergsteigen mehr als Sport? Ja, selbstverständlich ist es mehr als Sport! Heute fehlt mir diese Diskussion – oder genauer: eine Einbettung unseres Tuns in Ethik, Philosophie, Poesie und Spiritualität. Viele große Bergsteiger wie Rébuffat, Bonatti oder Karl hatten eine verspielte Anbindung an diese wichtigen Themen. Heute geht das alles im reinen Leistungssportdenken völlig unter.

 

 

AK: Um zu entschleunigen, würde es oft schon genügen, ein Wort öfter auszusprechen: Nein. Müssen wir das wieder lernen?

 

PR: Auf jeden Fall! Nein zu völlig überzogenen Konsumerwartungen, zu völlig überzogenem Leistungsdruck. Papst Franziskus hat mal gesagt, dass dieses Konsumverhalten zu einem „inneren Marktplatz“ führe, auf dem wir uns selbst ständig „verkaufen“ müssen. Und das führe zu einer seelischen und spirituellen Armut. Damit bringt er es auf den Punkt.

 

"Die Führungskräfte oder CEOs, die Motivationstrainer einladen, werden den umfassenden Anforderungen an ihre Rolle nicht gerecht. Sie machen ihren Job einfach nicht richtig"

 

AK: Leistungssport und Wirtschaft rufen nach Motivationstrainern. Wie wär's: Werden Sie doch Demotivationstrainer!

 

PR: (Lacht) Nein! Statt sich zu fragen, wie sie ihre Mitarbeiter motivieren, sollten Unternehmen aber zuerst eine andere Frage klären: Wo demotivieren wir die Mitarbeiter eigentlich? Und das fängt bei der Führung an, bei schlechter Kommunikation, Arbeitsüberlastung, unreflektiertem Mengenzuwachs, Konflikten, mangelnder Synchronisation von Projekten, mangelndem Bewusstsein für die Auswirkungen von Entscheidungen usw. Es ist das Gleiche wie in der Politik, wo Entscheidungen getroffen werden, ohne die Auswirkungen für die Basis zu kennen. Genau das demotiviert die Leute – abgesehen von mangelnder Wertschätzung. An diesen Themen müsste gearbeitet werden. Die Führungskräfte oder CEOs, die Motivationstrainer einladen, werden den umfassenden Anforderungen an ihre Rolle nicht gerecht. Sie machen ihren Job einfach nicht richtig. Den Satz müssen Sie auf jeden Fall schreiben! Statt sich Motivationstrainer in die Firma zu holen, sollten Top-Manager oder politische Entscheider mal 2-3 Wochen in der Fabrik oder an der Basis mitarbeiten. Das wäre viel wirkungsvoller als ein Motivationsvortrag.

 

 

AK: Viele Top-Alpinisten sind gern gebuchte Redner auf Management-Kongressen und Firmen-Events. Warum eignen sich die Berge eigentlich als Coachingzone?

 

PR: Weil das Thema Leistung, Motivation, Teamarbeit, Führung und Kommunikation sinnbildlich gut in die Wirtschaft passt und schön anzusehen ist. Aber häufig wird das völlig überbewertet. Denn die durchaus guten Impulse aus solchen Vorträgen müssen in den Arbeitsalltag erst noch umgesetzt werden. Das trifft dann aber auf einen völlig anderen Kontext als in den Bergen. Außerdem haben Unternehmen in der Regel ja keine Erkenntnisprobleme, sondern vor allem Umsetzungsprobleme. Deswegen sind in den meisten Fällen solche Vorträge völlig überbewertet und häufig auch völlig überbezahlt. Jeder Redner sollte mal selbst in einem Unternehmen gearbeitet haben oder Führungskraft gewesen sein, dann wüsste er oder sie, wie groß die Schere zwischen gut gemeinten Impulsen und Umsetzung in die kulturelle Arbeitswirklichkeit tatsächlich ist. Das ist aber typisch für unsere Wirtschaft und Politik: kurzfristige Impulse, kurzfristige Erfolgsfokussierung und schnelle Effekthascherei statt Nachhaltigkeit und gesundes Wachstum.

 

 

AK: Entschleunigung und Verzicht sind politisch tabu, weil sie als ideologisch gelten. Beschleunigung und Wachstum gelten dagegen nicht als ideologisch. Verstehen Sie das?

 

PR: Das ist ein großes Missverständnis, welches häufig manipulativ genutzt wird. Entschleunigung und Verzicht haben nichts mit Ideologie zu tun, sondern sind Mittel zum Zweck, ein richtiges Maß zu finden. Das rechte Maß und die rechte Mitte einzuhalten, haben schon die antiken Philosophen als zentrale Tugend zur erfolgreichen Lebenskunst beschrieben. Wir kommen dagegen, überspitzt gesagt, aus einer Ausbeutungskunst. Deswegen negieren wir den Verzicht als hohen Wert und stellen ihn in einen ideologischen Zusammenhang. So schräg sind wir mittlerweile unterwegs.

 

 

AK: Auch Bergsteiger tun sich bisweilen schwer mit dem Verzicht im Freizeitverhalten. Wie kommen Sie da raus?

 

PR: Durch ein anderes Verhältnis zum Bergsteigen. Die Frage ist ja: Was treibt uns eigentlich an? Ist es die Naturerfahrung? Ist es der sportliche Ausgleich? Ist es, wie man in den sozialen Medien den Eindruck gewinnt, eine Bühne der Selbstdarstellung? Oder ist es die Gier nach „immer mehr – immer schneller – immer höher“? Wer auf Konsum aus ist und sein bergsteigerisches Selbstbild darauf gründet, dass er im Jahr 100 oder 200 Touren macht, hat ein anderes Mindset als jemand, der sagt: Ich gehe in die Berge, weil es da schön ist. Sich selbst zu hinterfragen, wird ja kaum vorgelebt, weder von der Politik noch von vielen Führungskräften noch in der Gesellschaft selbst. Als einer der größten Vereine in Deutschland hat der Alpenverein eine Riesenchance, diese Grundhaltung insgesamt zu ändern und damit auch Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen.

 

 

"Unsere Naturverständnis braucht mehr Emotion, nicht nur Kognition"

 

AK: Das setzt mündige Mitglieder voraus. Was ist ein mündiges Alpenvereinsmitglied?

 

PR: Mündig ist jemand, der selbständig denkt und eigenverantwortlich handelt. Ein mündiges Mitglied setzt sich mit den bergsteigerischen Basiskompetenzen auseinander, die nötig sind, um unfallfrei und erlebnisreich in den Bergen unterwegs zu sein. Es setzt sich auch mit den Naturschutzbelangen auseinander, braucht aber nicht ständig Regeln und Lenkungsmaßnahmen, sondern hat verstanden, wann und wo es in der Natur beispielsweise zu Konflikten mit dem Wild kommen kann oder zu sozialen Konflikten mit den Bauern und mit anderen Bergsteigern oder -Wanderern. Sein Verständnis ist gewachsen und baut auf gegenseitigen Respekt, auch der Natur gegenüber.

 

 

AK: Sie plädieren für mehr Umweltbildung?

 

PR: Unbedingt. Pestalozzi wollte ja schon im 18.Jahrhundert das Kopf-, Herz- und Handlernen gleichermaßen fördern, trotzdem ist unser Bildungsverständnis immer noch extrem kopflastig. Wir glauben, wenn der Mensch bestimmte Probleme erkennt, dann ändert er sein Verhalten. Das ist aber überhaupt nicht so. Menschen fahren mehr Fahrrad als früher, aber nicht, weil das ein entscheidender Beitrag für die Umwelt ist, sondern einfach, weil es Spaß macht. Das heißt, wir müssen in unsere Umweltbildung viel stärker die Emotionen mit reinnehmen – das Herz. Und wir müssen viel stärker begreifen, dass Bildung auch ethische Bildung ist. Ein 13-jähriger Schüler hat mal bei einer Veranstaltung gesagt: „Die Biologie erklärt uns, wie etwas funktioniert, aber nicht, wie wir damit umgehen.“ Wenn uns nun der Alpenverein erklärt, wie die Natur zu respektieren ist – mit Regeln und Lenkungsmaßnahmen –, dann spricht das den Kopf an, aber nicht das Herz. Unsere Naturverständnis braucht mehr Emotion, nicht nur Kognition. Ich hoffe da künftig auf mehr Zugang zu diesen Themen, vor allem auch im Naturschutz-Lehrteam.

 

 

AK: Das Ästhetische in der Natur stärker wahrnehmen: Kann man das lernen?

 

PR: Ja. Es sind jedoch bestimmte Rahmenbedingungen nötig, damit wir empfänglich für Schönheit und Ästhetik werden. Man kann das lernen, indem man den Modus verändert. Und da sind wir wieder bei der Entschleunigung: Sie hilft dabei, offen zu sein für das, was sich rechts und links des Weges befindet. Für die Erfahrungen von Schönheit. Für die Muße und für die Tagträumerei. Wenn ich auf den Berg renne und am Gipfel aller Welt eine Nachricht schreiben muss, wo ich gerade bin, befinde ich mich nicht gleichzeitig im Empfangsmodus für Schönheit.

 

"Denn wer das Bergsteigen in Sportdisziplinen kategorisiert, degradiert die Berge zum Turngerät und zur Leistungsarena"

 

AK: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sagte: Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Sind Sie mit dem Wort Bergsport glücklich?

 

PR: Nein. Bergsport geht ja noch, aber Bergsportdisziplinen finde ich furchtbar. Das erinnert an das Denken des Deutschen Olympischen Sportbunds. Das hat eine enorme Suggestivwirkung auf die DAV-Mitglieder. Denn wer das Bergsteigen in Sportdisziplinen kategorisiert, degradiert die Berge zum Turngerät und zur Leistungsarena. Das fördert kontinuierlich die Entfremdung von der Natur, wie wir ja vielerorts beobachten können. Unsere Gebirge sind aber in erster Linie Lebens-, Kultur- und artenreicher Naturraum. Wir brauchen für die Bewegung und den Sport in freier Natur ein umfassenderes Verständnis als den reinen Sport- oder Leistungssportgedanken.

 

AK: Was wäre denn ein anderes, besseres Wort für Bergsport?

 

PR: Ich habe mir die Frage auch schon gestellt. Für mich geht es vor allem um Bewegung – um Bewegung in den Bergen, in unterschiedlichen Bereichen. Da müsste man mal wortschöpferisch initiativ werden und auch mehrere kluge Köpfe zusammenbringen. Eine neue Wortschöpfung sollte aus meiner Sicht mehr in Richtung Spielformen gehen. Das hat was von Ausprobieren dürfen, Leichtigkeit und Verspieltheit. Der Sportansatz hat seine Berechtigung, aber am Ende sind wir eben nicht auf dem Sportplatz.

 

Pit Rohwedder ist Unternehmensberater, Coach und Autor des Buches „Balance Your Work Life“, ehrenamtlich 2. Vorsitzender der DAV-Sektion Füssen, Bergführer und Mitglied im Bundeslehrteam des DAV.

 

Literatur: Pit Rohwedder: Balance Your Work Life – Durch clevere Entschleunigung Leistung verbessern, Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2020.